Bundestagswahl: Was zur Wahl steht

Mit der Wahl Macrons scheint der Vormarsch des Rechtspopulismus gestoppt. Die Bundestagswahl eröffnet die Chance, diesen Trend durch eine proeuropäische Politik zu verstetigen. Es kommt darauf an, die freiheitliche Demokratie mit sozialer Sicherheit und ökologischem Fortschritt zu kombinieren.

Straßenszene in New York
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Die zentrale Herausforderung der Moderne lautet: Wie stiften wir Sicherheit im Wandel?

Ein Beitrag aus unserem Magazin Böll.Thema "Deutschland vor der Wahl".

Die liberale Demokratie wird heute von innen wie von außen herausgefordert: von außen durch selbstbewusst auftrumpfende autoritäre Regime – vorneweg Russland, China, der Iran und mittlerweile auch die Türkei –, von innen durch nationalistische, fremdenfeindliche Bewegungen und Parteien, die als Systemopposition gegen das politische Establishment auftreten.

Die gute Nachricht: Brexit und Trump waren heilsame Schreckmomente. Seither schlägt das Pendel wieder zurück. Es scheint, als hätte die rechtspopulistische Welle ihren Zenit überschritten. Der kometenhafte Aufstieg Emmanuel Macrons zum französischen Präsidenten eröffnet die Chance, mit einer sozialliberalen, dezidiert proeuropäischen Politik wieder in die Offensive zu kommen.

Es gibt Grund zur Zuversicht, aber nicht zur Entwarnung. Die Krise der liberalen Demokratie sitzt tief. Umso wichtiger, dass Berlin jetzt auf Paris zugeht. Wir brauchen einen deutsch-französischen Kompromiss für eine Reform der Eurozone und eine konzertierte Wirtschafts- und Finanzpolitik, um den europäischen Motor wieder in Schwung zu bringen.

Was ist passiert?

Weshalb hat die liberale Demokratie seit den glorreichen Wendezeiten von 1989/90 so stark an Ansehen und Anziehungskraft verloren? Es gibt einige Schlüsselereignisse für das Umschlagen der politischen Großwetterlage:

  • Die Finanzkrise von 2008 ff. war eine Zäsur. Sie erschütterte das Vertrauen in die politischen Institutionen, verletzte das Gerechtigkeitsgefühl weiter Teile der Bevölkerung und verstärkte das Gefühl, dass die Globalisierung außer Kontrolle geraten ist.
  • Auch die anwachsende interkontinentale Migration wirkt in diese Richtung. Sie führt zu einer emotional aufgeladenen Polarisierung der westlichen Gesellschaften in Verteidiger und Gegner einer akzeptierenden Einwanderungspolitik.
  • Die Terroranschläge islamistischer Gruppen wirken als Brandbeschleuniger. Sie sind ein gefundenes Fressen für fremdenfeindliche und islamophobe Kräfte.

Das Gefühl von Kontrollverlust spielt den Kräften in die Hände, die den Rückzug in die nationale Wagenburg predigen. «Let’s take back control» war die zentrale Parole der Brexit-Kampagne, die Rückgewinnung der Kontrolle über die Wirtschaft und die Zuwanderung eine Hauptbotschaft der Trump-Kampagne.

Der Konflikt zwischen weltoffener und geschlossener Gesellschaft, globaler Integration und nationaler Abschottung wird zur neuen Zentralachse der politischen Auseinandersetzung. Er überlagert die alte Rechts-links-Achse um Markt und Staat, Freiheit und Gleichheit.

Krise der liberalen Moderne

Unter diesen politischen Oberflächenphänomenen stecken tiefer liegende Ursachen für das antiliberale Rollback. Im Kern haben wir es mit einer Modernisierungskrise zu tun, mit einer Gegenreaktion auf die Gleichzeitigkeit fundamentaler Veränderungen, die unsere Gesellschaften von Grund auf umbilden:

Die ökonomische Globalisierung führt zur tendenziellen Spaltung der westlichen Gesellschaften in Gewinner und Verlierer globaler wirtschaftlicher Integration. Die weltweite Standortkonkurrenz erhöht den Druck auf die Arbeiterschaft der alten Industrieländer. Ganze Branchen und Regionen gehen in die Knie. Der Leistungsdruck wächst, die Reallöhne sind in den USA und vielen europäischen Staaten gesunken, soziale und regionale Disparitäten nehmen zu. Abstiegsängste breiten sich bis in die Mittelklassen aus.

Die anhaltende Einwanderung von Menschen anderer Hautfarbe, Religion und kultureller Prägung verstärkt das Gefühl der Verunsicherung in Teilen der Gesellschaft. Auch hier haben wir es mit einer Polarisierung zu tun, die in etwa der Spaltung in Globalisierungsgewinner und -verlierer folgt. Wer seinen sozialen Status bedroht sieht, ist anfälliger für den Ruf nach «Deutschland den Deutschen».

Die dritte große Umwälzung ist die Revolution der Geschlechterverhältnisse: die Auflösung der patriarchalen Ordnung mit der traditionellen Familie als Kern. Gleichstellung von Frauen, Gleichberechtigung sexueller Minderheiten, das Coming-out von Schwulen und Lesben – was für die einen ein Prozess der Befreiung, ist für die anderen der Verlust von Rollensicherheit und die Abwertung ihrer Gundsätze. Wütende weiße Männer bilden den harten Kern der Trump-Anhänger.

Dazu kommt die digitale Revolution, die mit einer dramatischen Umwälzung der Arbeits- und Lebenswelt einhergeht. Wie bei den anderen großen Veränderungen spaltet sich die Gesellschaft auch hier zwischen Gewinnern und Verlierern.

Die einen fühlen sich in der neuen Technik-Welt zuhause, die anderen fühlen sich überrollt; die einen sehen vor allem die Chancen, die anderen die Gefahren. In der öffentlichen Wahrnehmung sind intelligente Maschinen, Roboter und automatisierte Fabriken eher Schreckgespenster als die Vorboten einer besseren Zukunft.

Das alles spielt sich gleichzeitig und mit hoher Geschwindigkeit ab. In der Summe erzeugen diese Veränderungen eine Grundstimmung der Gereiztheit und Unsicherheit. Furcht vor der Zukunft ist der Treibstoff für autoritäre, nationalistische und fremdenfeindliche Bewegungen. Sie ist der Nährboden für den massenhaften Auftritt von «Wutbürgern», denen die ganze Richtung nicht passt.

Was tun?

Eine zentrale Herausforderung lautet: Wie stiften wir Sicherheit im Wandel? Diese Frage begleitet die industrielle Moderne seit ihren Anfängen. Die traditionelle Antwort besteht in der Herausbildung des Sozialstaats, der ein Sicherheitsnetz als Schutz vor Armut und Deklassierung spannt. Sie bleibt auch in Zukunft aktuell, reicht aber nicht aus.

In Zeiten rapider Veränderung und um sich greifender Verunsicherung wächst die Bedeutung öffentlicher Institutionen: Kindergärten, Schulen und Universitäten, Theater und Museen, Eisenbahn und öffentlicher Nahverkehr, kommunale Kliniken und Energieversorger. Sie sollen soziale Teilhabe aller ermöglichen und sind zugleich Gemeinschaftsgüter, die allen gehören und allen zur Verfügung stehen.

Auch die demokratische Republik braucht symbolische Repräsentation, doch die öffentlichen Institutionen werden eher stiefmütterlich behandelt. Wir müssen Kindergärten und Schulen, Bahnhöfe und öffentliche Schwimmbäder wieder zu Orten machen, die von den Bürgern als ihre gemeinsamen Errungenschaften gesehen werden. Das ist eine Herausforderung für staatliche Politik wie für bürgerschaftliches Engagement.

In Zeiten raschen Wandels ist Bildung das A und O. Sie ermöglicht oder blockiert sozialen Aufstieg und ist gleichzeitig (neben der familiären Sozialisation) die wichtigste Ressource für «innere Sicherheit» im wörtlichen Sinn: für die Selbstsicherheit jedes Einzelnen, sich als Subjekt der eigenen Biografie und nicht als bloßer Spielball fremder Mächte zu verstehen. Die liberale Moderne braucht beides: Systeme kollektiver Sicherheit und eine Sicherheit, die nur von innen kommen kann.

Die antiliberalen Bewegungen diverser Couleur beschwören die eine oder andere Spielart einer geschlossenen Gemeinschaft gegen den verderblichen Individualismus der liberalen Moderne. Was den einen die ethnisch-kulturell homogene Volksgemeinschaft, ist den anderen die Gemeinschaft der Rechtgläubigen oder der Traum vom neuen, sozial und ökologisch geläuterten Menschen, der sich ganz dem Gemeinwohl unterordnet.

Im Zentrum der liberalen Demokratie steht dagegen das Individuum mit seinen Rechten und seiner Selbstverantwortung. Die individuelle Freiheit aller ist Sinn und Zweck progressiver Politik. Die demokratische Republik ist aber mehr als die Summe selbstbestimmter Individuen. Sie lebt vom gemeinsamen Handeln ihrer Bürger, vom Engagement für die öffentlichen Angelegenheiten.

Je größer die kulturelle, religiöse, politische Vielfalt der weltoffenen Republik, desto mehr braucht sie einen normativen Grundkonsens. Der Ruf nach einer «Leitkultur» verkennt aber, dass diese Gemeinsamkeit gerade nicht in einer bestimmten Kultur (Lebensform) bestehen kann. Wer nach Leitkultur ruft, landet beim Kulturkampf.

Ein republikanisches «Wir» kann sich nur als politische Gemeinschaft bilden. Ihre Leitwerte müssen wir nicht erfinden. Sie sind in unserer Verfassung verankert. Demokratischer Patriotismus ist Verfassungspatriotismus. Die liberale und soziale Demokratie des Grundgesetzes, das ist unsere Republik.

Wir haben sie über die Jahrzehnte verändert, sie toleranter, weltoffener, gerechter, bunter gemacht – und zugleich hat die Republik uns verändert. Das gilt zumindest für meine Generation, die einst noch gegen die «parlamentarische Scheindemokratie» zu Felde zog.

Es wird Zeit, den altlinken Generalvorbehalt gegen die «bürgerliche Republik» aufzugeben. Die zentrale Konfliktachse der Moderne verläuft nicht zwischen Kapitalismus und Sozialismus, sondern zwischen Demokratie und Autoritarismus (von rechts wie von links).

Die Wiederentdeckung des Fortschritts

Wir werden die Errungenschaften der liberalen Demokratie nur bewahren, wenn wir nicht bei der Verteidigung des Status quo stehen bleiben. Den traditionellen Parteien der linken und rechten Mitte ist die Zukunft abhandengekommen. Auch die Grünen glänzen zurzeit nicht mit neuen Ideen, wie die Republik gerechter und ökologischer werden soll. Dabei liegen zumindest einige solcher Zukunftsprojekte in der Luft. Man muss sie nur aufgreifen und weiterdenken.

Weshalb trauen wir uns nicht, ein neues, grünes Wirtschaftswunder auszurufen? Ökologische Innovation kann zur Schubkraft für eine neue ökonomische Dynamik, für Erfindungsgeist und Unternehmertum werden. Abschied von fossilen Energien, Entkopplung von Wohlstand und Naturverbrauch – das ist der Stoff für eine neue industrielle Revolution.

In ihrem Zentrum stehen nicht Verzicht, Einschränkung und Verbote, sondern die Freisetzung der kreativen Kräfte im Wettbewerb um die besten Lösungen. Und weshalb sind die Grünen so zurückhaltend bei der Debatte sozialpolitischer Konzepte, die auf Globalisierung und digitale Revolution antworten?

Die Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten am Produktivvermögen ist eine alte Idee, die heute wieder hochaktuell ist. Ein zeitlich befristetes Bildungsgrundeinkommen würde das Recht auf Bildung finanziell untermauern und allen Bürger/innen den Zugang zu wissenschaftlicher oder beruflicher Weiterbildung eröffnen.

Sollte die digitale Revolution tatsächlich zu einem Kahlschlag von Jobs im ersten Arbeitsmarkt führen, brauchen wir neue Kombinationen von Erwerbsarbeit, Non-Profit-Initiativen und bürgerschaftlichem Engagement, die durch eine Wertschöpfungssteuer finanziert werden. Man muss die Ergebnisse solcher Debatten nicht vorwegnehmen – aber führen muss man sie, wenn man Zukunftspartei sein möchte.

Ein neuer Anlauf für Europa

Es wird Zeit, uns von der fixen Idee zu lösen, dass eine «immer engere Europäische Union» in einen europäischen Zentralstaat münden muss. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wir bringen nur neuen Schwung in das europäische Projekt, wenn wir es aus dieser Engführung befreien.

Statt immer mehr Macht an der Spitze der europäischen Institutionen zu konzentrieren, sollten wir Europa als flexibles politisches Netzwerk denken. Die Architektur der EU muss Einheit in der Vielfalt ermöglichen. Sie sollte «Coalitions of the Willing» auf unterschiedlichen Politikfeldern ermutigen.

Weshalb sollten nicht die Staaten vorangehen, die den nächsten Schritt in Richtung einer gemeinsamen Energie-, Flüchtlings- oder Verteidigungspolitik unternehmen wollen? Dabei sollten wir uns auf die Felder konzentrieren, bei denen die Bürger sich tatsächlich «mehr Europa» wünschen. Die Formen vertiefter Zusammenarbeit ergeben sich dann aus der Sache, statt sie zum Selbstzweck zu erheben.

Ob wir es wollen oder nicht: In den kommenden Jahren kommt es mehr denn je auf die Bundesrepublik an. Sie spielt eine Schlüsselrolle für den Zusammenhalt Europas und die Zukunft des Westens. Jede künftige Bundesregierung muss daran gemessen werden, ob sie dieser Verantwortung gerecht wird.

Dieser Beitrag erschien zuerst in unserem Magazin Böll.Thema "Deutschland vor der Wahl".